Manuelle Therapie bei Säuglingen und Kleinkindern - eine polarisierte Debatte erfordert Nuancierung und klinische Expertise
Einführung
In der manuellen Therapie gibt es seit Jahrzehnten eine Debatte über die Anwendung von Mobilisierungstechniken bei Säuglingen und Kleinkindern. Kürzlich flammte diese Debatte erneut auf, nachdem die Publikation IFOMPT & IOPTP Erklärung zur pädiatrischen Manipulation und Mobilisierung (2024). Darin wird empfohlen, Manipulationen und Mobilisierungen der Wirbelsäule bei Kleinkindern weitgehend zu vermeiden, was zum Teil auf einer Risikobewertung und begrenzter Evidenz beruht(Borusiak et al 2010). Diese Leitlinien wurden anschließend von der niederländischen Gesellschaft für manuelle Therapie (NVMT) und der niederländischen Gesellschaft für pädiatrische Physiotherapie (NVFK) übernommen. Dennoch wirft dieses Vorgehen viele Fragen auf. Nicht nur wegen der begrenzten Begründung dieser politischen Linie, sondern auch, weil neuere klinische Erfahrungen, sichere Behandlungspraktiken und europäische Daten zu positiven Behandlungsergebnissen weitgehend ignoriert werden (Wuttke et al 2025). In diesem Blog werfen wir einen breiteren Blick auf die Diskussion.
Zusammenfassung des IFOMPT/ IOPTP -Stellungnahme und Auswirkungen.
In der internationalen Stellungnahme von IFOMPT und IOPTP (2024) heißt es:
- Manipulationen und Mobilisierungen der Wirbelsäule sind nicht empfohlen bei Säuglingen.
- Sie kann möglicherweise angemessen sein bei Kindern mit Muskel-Skelett-Beschwerden wie Nackenschmerzen und Bewegungseinschränkungen, wenn sie ordnungsgemäß begründet und von Fachleuten durchgeführt werden.Manipulation ist eine Kontraindikation
- Bei nicht-muskuloskelettalen Beschwerden (z. B. Reflux, ADHS, schreiende Säuglinge) wird von einer Anwendung abgeraten.
Während diese Empfehlungen aus einer "Sicherheit zuerst"-Perspektive heraus verständlich sind, können kritische Anmerkungen über die mangelnde Transparenz der verwendeten Literaturauswahl und den Ausschluss neuerer positiver Nachweise gemacht werden.In einem formellen Schreiben an die KNGF äußern niederländische Experten Bedenken hinsichtlich der wissenschaftlichen Grundlage der Erklärung (Saedt et al., 2025). Sie betonen dies:
- Die neuere Literatur, die positive Auswirkungen der Mobilisierung bei Säuglingen zeigt, wurde in der IFOMPT-Erklärung nicht berücksichtigt.
- Die dargestellten Risiken beruhen größtenteils auf Fallgeschichten aus der Chiropraktik und sind daher nicht repräsentativ für die niederländische Praxis des spezialisierten Physiotherapeuten für Muskel-Skelett-Therapie.
- In einer deskriptiven Studie der European Workgroup of Manual Medicine (EWMM) werden >420.000 überwachte Behandlungen ohne schwerwiegende unerwünschte Ereignisse gezählt, also nicht mehr als bei Säuglingen und Kindern, die im Allgemeinen mit anderen Therapieformen behandelt werden (Sacher et al. 2025).
Diese Kritik wird in der internationalen Fachliteratur unter Verweis auf die Debatte über Voreingenommenheit und voreingenommene Politikgestaltung geteilt (Kusgen & Ammermann 2025)
Auch bei Säuglingen und Kleinkindern können Nackenfunktionsstörungen und damit verbundene Symptome auftreten.
Ein geplanter Artikel über das HWS-Syndrom bei Kindern (von Piekartz, 2025) zeigt, dass Nackenschmerzen bei Kleinkindern häufig mit kraniofazialen und zervikalen Asymmetrien, Schmerzen, Bewegungsangst und damit verbundenen Entwicklungsverzögerungen verbunden sind. In diesem Artikel wird u.a. die Anwendung von sanften Mobilisationstechniken, wie z.B. im Rahmen des Maitland-Konzepts (Grad I-III, ohne Provokation), mit dem Ziel befürwortet,:
- Verringerung der (kranio-)zervikalen Dysfunktionen und Abschwächung der anhaltenden nozizeptiven Reize,
- Verringerung der Bewegungsangst,
- Förderung der Propriozeption und der Haltungskontrolle,
- frühzeitige Normalisierung von Asymmetrien und Funktionsverzögerungen im Kiefer-Gesichts-Hals-Bereich durch gezielte Stimulation.
Entscheidend ist hier ein sorgfältiges Screening auf rote Fahnen und der Einsatz spezialisierter Therapeuten mit Kenntnissen der pädiatrischen (Hals-)Anatomie und Entwicklungsphysiologie. Die Eltern werden aktiv in den Behandlungsprozess einbezogen und dazu angehalten, ihren Lebensstil zu ändern und einfache Übungen zu Hause durchzuführen (Jonslin et al., 2024).
Meine persönliche Sichtweise aus mehr als 25 Jahren Erfahrung mit manueller Therapie bei Säuglingen und Kleinkindern
Als Manualtherapeutin arbeite ich seit über 25 Jahren mit Säuglingen und Kleinkindern, wobei mein Schwerpunkt auf der funktionellen neuromuskuloskelettalen Diagnose und der Anwendung sanfter, nicht provozierender Techniken liegt. Insbesondere akzessorische Mobilisationen der Grade II, III und IV - ohne Beschwerden und in Kombination mit kraniofazialen manuellen Techniken - haben sich als klinisch wirksam erwiesen, um funktionelle Dysfunktionen zu reduzieren und persistierende nozizeptive Reize zu unterdrücken (von Piekartz, 2015), vorausgesetzt, dass:
- Es wird ein sorgfältiges Screening auf Indikationen und Kontraindikationen durchgeführt.
- Mobilisierungen werden korrekt, individuell angepasst und symptomfrei durchgeführt.
- Die Kommunikation mit den Eltern, die Aufklärung und die Nachsorge über mehrere Monate nach Abschluss der Behandlung sind ein wesentlicher Bestandteil des Behandlungsprozesses.

Untersuchung des Occiput -C1 mit akzessorischen Bewegungen bei einem Säugling
Foto: harry von Piekartz
Passt diese Entwicklung zu einem breiteren Paradigmenwechsel in der neuromuskuloskelettalen Physiotherapie (Manuelle Therapie)?
In den letzten fünf Jahren zeichnet sich im Bereich der Physiotherapie ein klarer Trend ab: Hands-On-Techniken werden zunehmend durch aktive Übungsformen ersetzt, wobei einige manuelle Therapietechniken ausdrücklich abgelehnt oder mit Warnhinweisen versehen werden. Dieser Trend manifestiert sich in der Ausbildung, in der Entwicklung von Leitlinien und sogar in den Kriterien der Krankenkassen. Obwohl die Wirksamkeit aktiver Bewegungstherapie gut belegt ist und gerade die Kombination aus manueller Therapie und gezielter, auf den Einzelnen zugeschnittener aktiver Rehabilitation am wirkungsvollsten zu sein scheint, ist eine polarisierende Gegenüberstellung von passiven und aktiven Interventionen gerade im Kontext der pädiatrischen manuellen Therapie nicht wünschenswert.
Deshalb noch einmal die Aussage der IFOMPT Taskforce: Manipulationen und MOBILISATIONEN an der Wirbelsäule sind nicht empfohlen bei Säuglingen.
Der spezialisierte Manualtherapeut, der u.a. im Rahmen der EWMM, CRAFTA oder IMTA ausgebildet wurde, wird niemals empfehlen:
- Manipulation von Säuglingen und Kleinkindern mit einer Schubtechnik - eine sichere, korrekt durchgeführte Mobilisierung bei Kleinkindern ist keine Manipulation;
- Behandlung von nicht-muskuloskelettalen Beschwerden wie Unruhe, schreiende Säuglinge oder Neurodermitis usw.;
- eine Behandlung durchführen, wenn rote Flaggen vorhanden sind.
- Darüber hinaus wird dringend empfohlen, eine strukturelle Koordination mit dem überweisenden Arzt oder einem spezialisierten Kollegen, wie z. B. dem pädiatrischen Physiotherapeuten.
Schlussfolgerung
- Die Empfehlungen der IFOMPT-Stellungnahme erfordern mehr Nuancierung. Sanfte Mobilisationen wie im Rahmen des Maitland-Konzepts sind, wenn sie sorgfältig indiziert und von gut ausgebildeten Therapeuten durchgeführt werden, sicher und wertvoll für Kinder mit muskuloskelettalen Beschwerden.
- Verallgemeinernde Warnungen oder Verbote ohne klinische Begründung untergraben die evidenzbasierte Praxis; es ist Zeit für einen fairen, ausgewogenen Ansatz, bei dem sich klinische Erfahrung, Daten und Wissenschaft gegenseitig verstärken. Diese Debatte ist alles andere als abgeschlossen.
Referenzen
Borusiak, P., Biedermann, H., Boßerhoff, S., & Opp, J. (2010). Fehlende Wirksamkeit der manuellen Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf zervikogenen Kopfschmerz: Ergebnisse einer prospektiven, randomisierten, placebokontrollierten und verblindeten Studie. Kopfschmerzen: Die Zeitschrift für Kopf- und Gesichtsschmerzen, 50(2), 224-230.
Joslin, R., Allen, E., & Carter, B. (2024). Verständnis der Bedeutung der therapeutischen Allianz während der physiotherapeutischen Behandlung von Muskel-Skelett-Schmerzen bei Kindern: ein Scoping Review. Grenzen des Schmerzes
Forschung, 5, 1452771. IFOMPT & IOPTP. (2024). Pädiatrische Manipulation und Mobilisierung: Evidenzbasierte Praxis - Grundsatzpapier. https://doi.org/10.6084/m9.figshare.26038921
Sacher, R., Saedt, E., & Wuttke, M. (2025). Eingeschränkte Anwendung von Wirbelsäulenmobilisation und -manipulation bei Säuglingen: Wie ernsthaft ist die wissenschaftliche Debatte? Manuelle Medizin, 1-4.
Küsgen, B., & Ammermann, M. (2025). Es gibt keinen Wahnsinn bei manuellen Wirbelsäulentechniken in der Pädiatrie. Zeitschrift für Manuelle und Manipulative Therapie, 33(1), 16-17.
Forschung, 5, 1452771. IFOMPT & IOPTP. (2024). Pädiatrische Manipulation und Mobilisierung: Evidenzbasierte Praxis - Grundsatzpapier. https://doi.org/10.6084/m9.figshare.26038921
Saedt, E.van de Woude, B., Theunissen, P., & von Piekartz, H. (2025). Brief an den Vorstand der KNGF, Reaktion auf die IFOMPT-Erklärung. EWMM NL & CRAFTA.
von Piekartz, H. (2025). Das HWS-Syndrom bei Kindern im Alter von 2-7 Jahren in PhysiopraxisSeptember. Im Druck / In Vorbereitung.
Piekartz, H.,Budelmann K, (2015)Neuromuskuloskeletales Assessment und Management von kindlichen Kopfschmerzenp 574- 596 in . "Kiefer, Gesichts- und Zervikalregion. Neuromuskuloskelettale Beurteilung und Behandlungsstrategien, H. von Piekartz." (2015).
Wuttke, M., Knuedeler, M., & Wenning, K. (2025). Tendenzielle und unwissenschaftliche Meinungen zur manipulativen Wirbelsäulentherapie in der pädiatrischen Population: In Reference to: Olson KA, Clewley D, Milne, N et al. (2024): Wirbelsäulenmanipulation und Mobilisierung bei pädiatrischen Erkrankungen: Zeit, den Wahnsinn zu beenden. J Man Manip Ther. 32 (3), 207-210. Zeitschrift für Manual & Manipulative Therapie, 33(1), 10-12.


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